Mein Brief an Dich

Fallstudie?

Spiel’s noch mal

(Kapitel 12)

Oh, ich liebe diesen Song. Er gehört zwar nicht unbedingt zu meiner favorisierten Musikrichtung, und doch fühle ich eine Art Verbundenheit zum Sound und seinem verbalen Verlauf. Nicht, dass sich während dieser klingenden fünf Minuten etwas komplett anderes abspielen würde, sodass man die eigene unmittelbare Situation vergisst – dafür bin ich nicht der geeignete Typ –, jedoch wird eine Stimmung heraufbeschworen, welche sich in meiner, zugegeben bodenlosen, Lage unglaublich beruhigend anfühlt.
Eine rezitierte Geschichte lenkt mich von meiner eigenen ab. Obwohl eine Handlung fortschreitet, wird sie doch immer wieder von ein und demselben Ruhepol getragen. Eine injizierte Quintessenz veredelt das Erzählte und verleiht dem Lied innere Geschlossenheit. Ein Song wird zum Leben! Unglaubliche, kryptische Floskeln parolisieren das Dasein. Unterstrichen mit einer unnachahmlich eingängigen „Hook-Line“, an welcher sich mein Ohr sprichwörtlich einhängt. Hattest du schon einmal beim Musikgenuss das Gefühl, dass sich das Gehörte wie ein Pfad anfühlt, welcher Ton für Ton und Wort für Wort getreten wird? Du hast praktisch keine Chance, dich der Richtung zu wehren, wohin Melodie und Text dich führen. Ein fantastisches Gefühl! Keine Fragen mehr wie „Wohin?“ oder „Wie bloß?“ – nichts! Blindes Vertrauen, dass dich der Song dort hinbringt, wo er dich haben will und du im Gegenzug auch mit dem Schlussakkord hingehörst. Als ob der Wechsel von Strophe und Refrain eine Selbstverständlichkeit beinhaltet, wie sie praktisch nur ein Naturgesetz haben kann. Diese Musik liebe ich, sie wird mich zwar nicht zu meiner mentalen Mitte bringen – wie gesagt, diese Anforderungen werden weder an meinen Typ gestellt noch verlange ich danach –, jedoch zeigt sie mir eine Richtung, in welche ich, exponiert von Selbstidentifikation, sonst keinen Bezug hätte. Im übertragenen Sinne beschreite ich mit dem Urheber des Werkes gemeinsam seinen Weg und kann mir unvoreingenommen ansehen, wohin dieser führt. Ob mir diese Richtung letztendlich gefällt, kann ich selbst entscheiden.
Und noch etwas: Befinde ich das Gehörte als unzufriedenstellend, brauche ich nicht mehr zurückzugehen oder zurückzuspulen, um wieder an meinen Ausgangspunkt zu gelangen. Man hat praktisch nichts zu verlieren!
Probiere den Song, höre das Lied, fühle diesen Weg – egal wo es endet, es wird keine Sackgasse sein, denn bei Missfallen „Stopp“ drücken und wie eine Zeitmaschine bringt es dich wieder zurück, wo du zuvor gestanden bist.
Bitte sieh mir mein Schwärmen nach; doch stell dir vor, du beginnst selbst zu klingen? Welch unglaubliche Vorstellung! Ich und du, wir klingen! Es ist eine schräge Vorstellung, das gebe ich zu, doch überlege: Du bist dein eigener Song!
Also ich hätte schon Lust darauf, einmal mein eigener Song zu sein. Meine Geschichte wird zum Lied: Es erzählt mich, verleiht meinem Leben eine Basis und stellt allem letztendlich noch den Sinn des Ganzen voran. Das Beste daran ist sogar, mein Gesangstalent wäre unerheblich. Mein Fallen? Komplett egal, denn ich bräuchte nur mir zuzuhören und den Pfad zu beschreiten. Ich vertraue meiner Melodie, dass ich dorthin komme, wo mein Platz zu sein hat.
Und wenn mir diese Richtung nicht gefällt, dann, ja, was dann? Na gut, an dieser Stelle bekommt mein Traum vom Hit einige Risse, denn ich bin ja nur ein Song, also wenn, dann muss dieser funktionieren. Und weil es so schön war, sollte der erreichte Zustand auch nicht am nächsten Tage bereits wieder Geschichte sein. Wie schlimm wäre es, sich nach einem Mal hören aus dem Halse zu hängen?
Problem Nummer eins: Nachhaltigkeit; Problem Nummer zwei: kein „Stopp“ und zurück auf Anfang, außer ich will den kompletten Schwachsinn noch einmal durchmachen. Hier ziehe ich meine Grenze: Mich auf meine Versäumnisse hinweisen, ja, aber sich selbst zu foltern für nichts und wieder nichts, nein.
Bei allem Enthusiasmus, mich zu vertonen, muss ich leider feststellen: Mein Leben ist zu diesem Zeitpunkt nur als Singleauskoppelung vorgesehen. Bestenfalls werde ich zum One-Hit-Wonder. Das „Wonder“ würde mich nicht weiter beunruhigen, jedoch ob ich mit „One Hit“ auskomme? Das herauszufinden, halte ich doch für ein sehr hohes Risiko. Da höre ich doch lieber den Song eines anderen. Und schon ist die Karriere wieder im Schrank verstaut. Überlegt man nun, das Leben in verschiedene Abschnitte zu teilen und diesen Teilen Songs zu widmen, könnte man ein komplettes Album, einen Longplayer, daraus basteln. Die einzige bittere Pille dabei ist, dass alle Lieder darauf reversiv genossen und somit zur Werkschau werden – dem Best-of meiner selbst. Damit könnte ich leben, denn schließlich beinhaltet diese Lebens-Compilation ja meine Hits und schließlich sind viele der berühmt-genialen Künstler erst nach ihrem Best-of der großen Bekanntheit vorgestellt worden.
Um der repräsentativen Komponente auch Aufmerksamkeit zu schenken, sollte ein angemessenes Ausmaß an Liedern vorhanden sein. Ein Album mit vierzehn Songs wird eher als langweiliges Leben gewertet. Hier wäre die Option des One-Hit-Wonder sogar noch verlockender. Leider ist nicht geklärt, ob ich überhaupt zum Hit geeignet bin. Bei knapp acht Milliarden Songs auf der Welt – legt man es auf die Bevölkerung um – ist natürlich die Chance, den Durchbruch zu schaffen, auch eher relativ. Und nicht zu vergessen: Wie überzeugt ist man eigentlich von seinem eigenen Leben? Welche Hitqualitäten schreibe ich mir denn selbst zu? Ehrlich gesagt halten sich die Schlagzeilen in meinem Leben bis dato sehr diszipliniert zurück. Die Vita, welche ich als meine präsentiere, kommt fabelhaft ohne nennenswerte Skandale aus. Zum einen schmeichelt mir dieser Zustand und hilft, meinen Status als ehrenwertes und anständiges Mitglied der Gemeinschaft zu postulieren, doch eine ersehnte Schlagzeile scheidet eher aus. Obwohl, wenn ich schon mein eigener Hit bin, dann müsste ich doch zumindest bei meiner Veröffentlichung eine Coverstory wert sein.
Findest du, ich übertreibe?
Ich male mir gerade diese romantische Situation aus, dass ein kleiner Junge an einer Straßenkreuzung die neueste Ausgabe, nein, besser, das Extrablatt proklamiert und ich zufällig daran vorbeischlendere, überrascht stoppe und diesem engagierten Jungen eine seiner Zeitungen abkaufe. Und was sehe ich da wohl? Mein Song – die Coverstory! Ich komme mir gerade vor wie ein kleines Kind, das die Tür zum Traum verwendet, um dem Unverständnis zur realen Welt entgegenzuwirken. Oder ich versuche, mir in verschrobenen Metaphern zu erklären, wie ich klingen möchte. Beides recht skurril – aber liebenswert, wäre man fünf Jahre alt.
Und trotzdem male ich mir aus, wie ich meine Melodie singe und ihr auf Schritt und Tritt folge. Ich bin mein eigener „Rattenfänger“, der mich mit meinen schönsten Melodien auf einen Pfad lockt, welchem ich blind vertrauen kann, dass es der richtige ist oder zumindest die richtige Absicht in seiner Wegweisung hat. Unbewusst spiele ich mich an den richtigen Ort, wo sich mein Lied entfalten kann und dem Publikum, welches schon sehnsüchtig auf dessen Klang wartet, präsentiert wird. Ich werde mir bis zum Schlussakkord zuhören und insgeheim froh sein, dass ich immer gespielt habe, was ich wollte.
Ein positiver Nebeneffekt ist dabei das Abgelenkt-Sein vom ach so gefürchteten Fallaufprall. Es beruhigt sogar, zwischenzeitlich nicht mit einem sich öffnenden Abgrund und dessen Kollisionsfolgen auf Du und Du stehen zu müssen.
Dafür bastle ich gerade im freien Fall an meiner Lebenskarriere.

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Gebundene Ausgabe: 104 Seiten
Verlag: MARMOTA PUBLISHING, Vomp 2016
ISBN: 978-3-9504275-0-9
Lektorat: Schreibwerkstatt Wien
Druck und Bindung: DGS GmbH Wien, www.BuchDrucker.at
Printed in Austria

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